Welt-Bildung - Vom Ganzen wissen wir wenig
Von Siegfried Großmann: Zuerst veröffentlicht im Bildungskalender 1. Halbjahr 2002
Wenn ich in den letzten Bildungskalender schaue, finde ich überwiegend
Angebote, die sich mit speziellen Themen beschäftigen: Bibliodrama,
Jugendarbeit, Seelsorge, eine Frauentagung, eine Männertagung, eine
Kassierertagung ... Das wollen die Leute so, die unsere Prospekte
bekommen, sagen die Bildungsfachleute. Das ist ja auch gut so - aber
genügt es? Liegen die meisten aktuellen Probleme nicht eher daran, dass
wir von eng begrenzten Bereichen sehr viel wissen, aber ziemlich
ungebildet sind, wenn es um das Ganze geht? Früher sprachen wir von
Allgemeinbildung. Müssten wir nicht heute besonders viel von der
Globalisierung verstehen oder vom Umweltschutz und der Bewahrung des Friedens?
Mich interessiert, was ich brauche
Es ist eine ganz normale Eigenschaft des Menschen, dass er sich zunächst
um das kümmert, was ihn direkt angeht. Ein guter Schulabschluss, eine
brauchbare Berufsausbildung, eine Fortbildung für die Gemeindearbeit und
das Hobby, und wenn Probleme auftauchen, Seelsorge und Psychologie. Es
war immer so, dass jeder versuchte, seinen eigenen Lebensbereich zu
gestalten. Damit haben wir eigentlich genug zu tun. Aber im Gegensatz zu
den Zeiten, in denen die Rahmenbedingungen vorgegeben waren und
Änderungen langsam gingen, reicht das heute nicht mehr. Viele Probleme
entstehen dadurch, dass wir von unseren eigenen Teilbereichen viel
verstehen, von dem Zusammenwirken mit anderen Bereichen wenig und vom
Ganzen fast nichts.
Orientierungskrise
Das Wissen hat in den letzten Jahrzehnten so zugenommen, dass niemand
mehr die Übersicht behalten kann. Wir verknüpfen einzelne Bereiche
miteinander und wissen das, was wir in den Medien lesen, hören und
sehen. Das hat zu einer starken Orientierungsproblematik geführt, die
uns Angst macht und schnell eine Hysterie erzeugt, wenn unvorgesehene
Probleme auftauchen, wie die Terrorangriffe der vergangenen Monate. Weil
unsere Informationen weitgehend aus den Medien stammen, können wir sie
nicht überprüfen. Oft suchen wir dort die Informationen, wo sie spannend
dargeboten werden und allzu große Probleme umgehen. So mischen sich
Oberflächlichkeit und Manipulationen zu einer unüberprüfbaren Mixtur,
die uns verunsichert.
Vereinzelung
Überall haben sich Teilbereiche gebildet. Christen bleiben unter sich
und informieren sich gegenseitig, ebenso die Anhänger verschiedener
Sportarten, die Generationen und die vielen Fans eines Hobbys. Man hat
seine Zeitschriften, kennt die einschlägigen Bücher aus seinem Bereich,
bildet sich dort weiter und vernetzt sich zu kleinen Gruppen - in einer
Stadt, in einer Organisation, über eine Zeitschrift oder im Internet.
Das ist gut und reicht aus, solange keine Fragen angesprochen werden,
die ein größeres Ganzes oder sogar den globalen Bereich betreffen. Weil
das aber immer häufiger vorkommt, geschehen viele Pannen, die wir
angesichts des gestiegenen Wissens und der ständigen Fortbildung nicht
erwartet haben. Es sind Probleme der Vereinzelung, der Begrenzung von
Informationen und Verantwortung auf Sektoren, und sie treffen die
Politik ebenso wie die Verwaltung, die Kirchen, die Verbände und
irgendwann auch meine Gemeinde oder meinen Verein.
Gott steht für das Ganze
Als Christen haben wir nicht nur das Motiv, das Ganze verstehen zu
lernen, weil es sonst große Probleme gibt. Wir wollen das Ganze
verstehen, weil Gott wie niemand sonst für das Ganze steht. Wer seinen
Willen erkennen möchte, muss sich mit der ganzen Welt beschäftigen, denn
er ist ihr Schöpfer. Gott ist gerecht, und weil er will, dass unser
Handeln zur Gerechtigkeit beiträgt, können wir nicht bei den Fragen
unserer Berufsgruppe oder unseres Landes stehen bleiben, sondern müssen
an das Ganze denken. Und gerade in den letzten Monaten haben wir lernen
müssen, dass sich die Frage nach dem Frieden weder an unseren Grenzen
noch in Europa allein stellt, sondern weltweit. Wer Gott liebt, wird
auch seine Schöpfung lieben. Wer mit Jesus leben will, wird versuchen,
sich so zu verhalten, dass Versöhnung geschieht und das Angebot der
Versöhnung mit Gott, das Jesus uns macht, vielen Menschen bekannt wird.
Wer das Wirken des Heiligen Geistes achtet, wird nicht mehr in der
"Schrebergartenmentalität" der eigenen, begrenzten Interessen bleiben,
sondern Verständnis dafür aufbringen, dass Geist, der überall wirkt, auch
den eigenen Horizont weitet.
Welt-Bildung - was können wir praktisch tun?
Der erste Schritt besteht darin, dass wir uns von Gott mit einem weiten Horizont beschenken lassen, der alle persönlichen, gemeindlichen und nationalen Interessen in das Ganze einordnet und uns damit immer eine doppelte Verantwortung zuweist, die für uns und die Menschen, die uns persönlich nahestehen, und die für die Verknüpfung unseres Lebensbereiches mit dem Ganzen.
Der zweite Schritt besteht in einer ausgewogenen Information. Ich lese verschiedene Zeitschriften, die aus unterschiedlichen politischen Lagern kommen und versuche, Artikel, Bücher und Fernsehsendungen zu nutzen, die den Aspekt des Ganzen nicht unterschlagen. Wenn ich mit Menschen zusammen komme, die etwas kennen, was ich nicht kenne, bin ich an Informationen und Gesprächen interessiert. Und ich lasse eine gesunde Skepsis zu, weil überall Verdrehungen der Wahrheit vorkommen können und ich versuchen will, sie möglichst oft wahrzunehmen.
Neben dem Bereich, in dem ich lebe und der deshalb immer einen Teilbereich umfassen wird, interessiere ich mich für einige Bereiche, die dem Ganzen näher sind. Das ist für mich z. B. die Ökologie. Durch sie habe ich gelernt, dass jedes persönliche Handeln einen Einfluss auf das Ganze hat. Ich kann versuchen, mit meinen Entscheidungen dem Ganzen zu dienen und andere zu überzeugen, mitzumachen. Ein anderer Bereich ist die Weltmission, die viele Fragen des Globalen anspricht und mir gleichzeitig helfen kann, Menschen kennenzulernen, die aus einer ganz anderen Lebenssituation kommen.
Überall da, wo ich mit anderen Menschen zusammenkomme, kann ich ein Netz knüpfen, das unterschiedliche Interessen und Erfahrungen verknüpft. Warum muss ich in meiner Gemeinde nur mit den Menschen zusammen arbeiten, die meiner Altersgruppe angehören, meinen Frömmigkeitsstil teilen und ähnliche Interessen haben? Hier, in anderen Gruppen, in meiner Nachbarschaft und in meinem Berufsleben ergeben sich viele Möglichkeiten, mich durch das Verknüpfen der Verschiedenartigkeiten ein Stück mehr dem Ganzen zu nähern.
Am meisten hilft mir die Neugierde - allerdings nur dann, wenn ich nicht begierig darauf bin, Sensationen zu sehen oder durch Auffälliges unterhalten zu werden. Meine Neugierde beruht auf dem Interesse, Gottes Welt besser kennenzulernen, die Handschrift des Schöpfers im anderen Menschen, in anderen Kulturen und Landschaften zu finden und selbst durch die Andersartigkeit der Menschen ergänzt zu werden. Dann werde ich mich nicht nur weiterbilden, weil es meinen persönlichen Interessen dient, sondern deswegen, damit ich die Welt besser verstehe und damit gezielter den Willen Gottes, der diese Welt liebt und erhalten will, erfüllen kann.
Gott will, dass alle Menschen gerettet werden und alle das bekommen, was
sie brauchen - ja eigentlich noch viel mehr, denn sie sollen "reiche
Fülle" haben. Vom Ganzen her gesehen im vollen Leben stehen, zu geben
und zu nehmen, voller Neugierde auf die unglaublich vielfältig
gestaltete Welt Gottes, das ist die Basis für ein wachsendes Verständnis
des Ganzen. Und so kommt zu der Berufsausbildung, der Entwicklung meiner
Hobbys und der Fortbildung für meine Arbeit in der Gemeinde die
"Welt-Bildung" dazu, das Verknüpfen meines eigenen Lebensbereiches mit
dem Ganzen und das Verständnis für die Zusammenhänge, die in diesem
Ganzen zu erkennen sind.
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Siegfried Großmann ist u.a. Autor des Buches Zwischen Zukunftsangst und Zukunftshoffnung in der Reihe "Geistlich leben" im Brunnen Verlag, Giessen.
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